Schwierige Entscheidungen kommen oft dann auf einen zu, wenn man nicht mit ihnen rechne. Und erst recht, wenn man sie gerade gar nicht brauchen kann. Schnell werden sie zu schier unlösbaren Problemen, wenn du sie nicht oder falsch anpackst. Dabei gehen sie nicht immer und notwendig mit einer künftigen Verschlimmerung der Lage einher – sie können auch eine Verbesserung versprechen. In unserem perfiden spätkapitalistischen System verheißen Entscheidungen allerdings stets eine sogenannte Optimierung, d. h. eine Verbesserung auf 100%. Als „Frau“ giltst du als Meisterin der Optimierung. Denn seit dem Kita-Alter bist du konditioniert, immer genau diejenige Wahl treffen zu wollen, die sich auch marktwirtschaftlich lohnt: Gehe in Vorleistung! Stehe rund um die Uhr zur Verfügung! Sei hart! Sei weich! Du kannst alles, wenn du willst! Und du nickst artig und rennst los. Die britische Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie nennt „Frauen“ deshalb „perfekte Mitglieder der neoliberalen Gesellschaft“. Die vermeintliche Wahlfreiheit, in der sich weibliches Können und Wollen, Sollen und Müssen auf intransparente Weise verquicken, hat natürlich ihren Preis. Zwar darfst du alles weitgehend autonom entscheiden. Dafür bist du aber auch für alles zuständig.

Bei schwierigen Entscheidungen hast du es mit gleichwertigen Alternativen zu tun. Sehr oft geht es um ein Problem, das mit dem Bedürfnis nach beruflicher Anerkennung zu tun hat – und/ oder der Liebe zu einem Mann, einer Frau, zur eigenen Mutter, zu einem noch ungeborenen Kind. Liebe ist nicht Länge mal Breite mal Höhe, sie ist keine wissenschaftliche Größe, keine Zahl. Genauso wenig wie Anerkennung oder Verantwortung. Es handelt sich hier um ethische Werte. Laut der amerikanischen Philosophin Ruth Chang sind ethische Werte immer inkommensurabel. Das heißt, für solch unschätzbar wichtigen Dinge wie Liebe, Wahrheit oder Gerechtigkeit gibt es kein gemeinsames Maß. Aber eben solche unvergleichlichen Größen stecken hinter jeder schwierigen Entscheidung. Wie soll man etwa Anerkennung und Verantwortung gegeneinander aufwiegen? Oder Liebe gegen Wahrheit gegen Vertrauen? Du kannst existenzielle Optionen – wie jede Alternative – rational abwägen, aus dem Bauch heraus entscheiden oder für die (vorläufige) Nichtentscheidung votieren. Dies ändert nichts daran, dass sie dich brutal mit deiner Freiheit konfrontieren. Einer Freiheit, die in diesem Fall nicht neoliberal getönt ist – Du bist frei zur Totaloptimierung! – sondern eine bisher völlig unbekannte Freiheit. Schlagartig siehst du das große Ganze. Plötzlich wirst du zur Philosophin. Du rätselst: „Wie soll ich leben? Wie leben, damit es künftig ein gutes Leben wird?“ Sokrates war der erste, der erforschte, wie zu leben „gut“ sei.

Die Verantwortung für das eigene Leben

Die Frage „Wie soll ich leben?“ stellt sich im Leben aller, weil sie in der Existenz selbst angelegt ist. Sie drängt sich besonders auf, wenn es um schwierige Entscheidungen geht. Plötzlich spürst du eine Verantwortung in dir, die alle konventionellen gendertypischen und neoliberalen „Solls“ sprengt. Nun geht es darum, deine Zukunft massiv mitzubestimmen. Deinem Leben eine andere Form zu geben. Eine neue Richtung und Tiefe. Deshalb ist eine schwierige Entscheidung nie „egal“, sondern immer „total“. Sie ist eine Erfahrung, die eine Frau mehr oder weniger komplett verändert. Wie eine Schwangerschaft. Ein Kind auszutragen und zu gebären kann deine machtvollste transformative Erfahrung überhaupt sein. Es nicht bekommen zu können – weil der Körper oder die Umstände es nicht zulassen – aber ebenso. Die Erfahrung einer gewollten Mutterschaft verheißt größtes Glück, die der ungewollten Kinderlosigkeit größtes Leid. Letztere macht dir klar: Du bist nicht die selbstverantwortliche, allzeit bereite Managerin deines Lebens, die du mitsamt deinem Smartphone, Laptop, Elektrotretroller sein kannst und willst, sein sollst und musst. Nicht, wenn dieses Leben selbst dazwischenfunkt – und dich statt eines Kindes eine schwierige Entscheidung austragen lässt. „Wie soll ich leben, damit ich insgesamt ein gutes Leben gehabt haben werde?“

Leichte und mittelschwere Entscheidungen fällst du, ohne dass sich das Empfinden deiner selbst ändert. Stets entscheidest du aus der Voreinstellung „Frau“ heraus. Im Laufe der Jahre realisierst du eine Option nach der anderen. Mit jeder Entscheidung fügst du dem Mosaik deines Lebens ein Steinchen hinzu. Durch die Reaktionen anderer auf deine jeweiligen Entscheidungen wird dir früher oder später klar, dass an diesem Mosaik die Folie weiblicher Rollenzuschreibungen klebt. „Was, du studierst Physik?“ „Warum hast du nie geheiratet?“ „Echt jetzt, du gehst nach Israel?“ „Toll, dass dir der Wiedereinstieg gelungen ist!“ Spätestens mit dreißig, vierzig bist du einmal oder mehrfach unsittlich berührt worden (im übertragenen oder wörtlichen Sinne). Jetzt kapierst du endlich in vollem Umfang, was Simone de Beauvoir meinte, als sie vomAnderen Geschlecht (1949) schrieb. Du erkennst die Tragweite des zentralen Satzes: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Denn die „Frau“ als Fleisch gewordenes Rollenbild gibt es gar nicht. Sie ist eine Erfindung der Gesellschaft.

Doch nun kommt die schwierige Entscheidung ins Spiel. Auf einmal hast du die Wahl zwischen einem Job in München, wo du niemanden kennst, und einem in Frankfurt, wo du zu Hause bist. Oder: Auf einmal erkrankt ein Elternteil an Krebs. Jetzt, wo du gerade zur Senior Manager avanciert bist. Puh. Wie soll ich leben? „Optimierung“ ist kein Thema mehr. Die Balance zwischen dem, wie die Dinge in der Regel sind (das Normale) und dem, wie sie idealerweise sein sollten (das Normative), ist empfindlich gestört. Du wirst von Fragen, Zweifeln, Angst überfallen. ABER:

Dadurch, dass das Normale, Normative, Regelhafte plötzlich in Frage steht und jedes Optimum fern scheint, öffnet sich ein ganz neuer Freiraum. TwitternIndem du mit der schwierigen Wahl ringst, nimmt dein Wahrnehmungsradius (der sich zuvor auf kleinkarierte Alltagskoordinaten beschränkte) kosmische Dimensionen an. Die Frau, von der alle glaubten, sie sei „Frau“, wird zur Astronautin. Sie sieht ihre Existenz vom All aus. Sie realisiert, wie klein und unbedeutend ihre Probleme und Zweifel sind – und zugleich: wie kostbar. Im Zustand der momentanen Schwerelosigkeit, in der die Zeit einen Augenblick lang still steht, wittert sie die Chance, radikal neu zu entscheiden, wer sie künftig ist. Bis jetzt war sie eine Frau, die „es wurde“ und sich „dazu machen“ ließ. Nun ist sie ein denkendes und fühlendes Lebewesen, das sich sich durch die schwierige Entscheidung, die es trifft und von der es erst in der Zukunft erfährt, ob es die richtige war, selbst befreit. Das ist der ultimative emanzipatorische Akt.

Suche die Gründe in dir

Wenn du aktuell mit einer schwierigen Entscheidung ringst: Fahnde nicht nach äußeren Gründen (Für und Wider). Überlege dir, welche Werte hinter deinen Wahlmöglichkeiten stecken – und welchen du dich voll und ganz verschreiben kannst, weil sie für ein gutes Leben stehen, das du entscheidend mitbestimmst. Niemand kann dir garantieren, welcher Wert, welche Wahl die richtige gewesen sein wird. Ob du „optimal“ gewählt hast, weiß du sowieso nie. Du hast alle Gründe, die du brauchst, schon in dir selbst. Jede schwierige Entscheidung ist eine neue große Chance, deine „normative Macht“ (Ruth Chang) ausüben: Selbst zu wählen, an welchen Standards und Idealen du dein Leben wirklich ausrichten möchtest. Das Tolle an existenziellen Optionen ist, dass sie dich dazu drängen, die Folie weiblicher Rollenzuschreibungen, die an deinem Lebensmosaik klebt, abzureißen – nicht einfach hirnlos „Frau“ zu spielen, sondern du selbst zu sein. Wenn du ein paar Mal eine schwierige Entscheidung getroffen hast, entdeckst du die tiefste Bedeutungsschicht des Wortes „authentisch“: aus deiner eigenen Freiheit heraus das Leben überhaupt wählen zu können und zu wollen. Lass dir von den Konventionen nicht sagen, was zu tun ist. Lass dich überhaupt nie mehr wieder zu etwas „machen“. Weder zu einer guten noch zu einer schlechten „Frau“. Nimm die schwierige Entscheidung zum Anlass, wirklich du selbst sein zu können und zu werden.

Suche nicht nach Garantien. Folge deinen ethischen Werten und wähle aus freier Entscheidung heraus das Leben selbst – inklusive aller Unsicherheiten. So machst du die magischste transformative Erfahrung überhaupt. Du lernst nämlich, dein Dasein aus einer doppelten Perspektive heraus zu betrachten. Du siehst die vielfältigen Aufgaben, Pflichten und Beziehungen deines hochkomplexen Alltags. Gleichzeitig trittst du von deinem subjektiven Standpunkt zurück und nimmst einen übergeordneten „Blick von nirgendwo“ ein, wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel es formulierte. Du siehst unseren Planeten, dich selbst und deine Umgebung gleichsam aus einer jenseitigen objektiven Perspektive. Du lernst zu staunen. Du staunst darüber, wie viele Leute Rollenkonventionen gehorchen, wie viele im Einklang mit den vorgegebenen Regeln leisten, perfektionieren, optimieren, Assessment-Center durchlaufen, ohne sich je zu fragen, worin ihr wertvollstes „Können“ besteht. Nämlich: zu lieben. Sich selbst zu vertrauen. Und schwierige Entscheidungen zu treffen.  Behalte diese magische Erfahrung nicht für dich. Lass andere am Zauber deiner schwierigen Entscheidungen teilhaben. Lerne von den existenziellen Wahlen anderer. Wenn alle in den härtesten Stunden der Wahl allein sind, ist niemand allein. Paradox oder wahr?


Dieser Text basiert auf einem Buchkapitel aus „Die Zentrale der Zuständigkeiten: 20 Überlebensstrategien für Frauen zwischen Wollen, Sollen und Müssen“ (Ludwig, 2022).

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