Das Bild, das sich unsere Bildkultur vom erfolgreichen Menschen im digitalen Umfeld gemacht hat, zeigt eine umwerfende Persönlichkeit, die total visionär und innovativ und authentisch und spritzig von Laptop und Smartphone aus ihre Geschäfte tätigt. Jetzt sofort, jederzeit und überall. Alles total easy! Aber was so leicht aussieht, ist oft unglaublich schwer. Wir sollen uns, unseren Job, unser Leben locker-flockig digital als Marke inszenieren. Und dabei so tun, als ginge uns „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) der analogen Welt nichts an: Klimawandel, Migration, Populismus… Was nun? Wir brauchen weniger Verkrampftheit und mehr Leichtigkeit. Ich glaube, drei zentrale Kompetenzen, die helfen, sich mit Leichtigkeit in dieser Welt zu behaupten, sind Kreativität, Authentizität und Selbstinszenierung.
Diese Qualitäten schließen einander nicht aus – im Gegenteil, sie bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Vorausgesetzt, man versteht, was damit gemeint ist. Dass ein Mensch überhaupt zum Schaffen fähig sei, sogar dazu, sich als „Originalgenie“ zu betätigen und „ex nihilo“ etwas Neues zu kreieren: Diese Idee stammt von den Romantikern des 18. Jahrhunderts. Auch 2018 ist das Neue heiß begehrt – allerdings sind die Grenzen zwischen „neu erfunden“ und „schon mal dagewesen“, zwischen „authentisch“ und „kopiert“, „echt“ und „fake“ fließend geworden. Was wie eine Disruption aussieht, könnte bloß ein alter Hut sein.
Der Sinn des Träumens
Als ersten Schritt weg von der Verkrampftheit empfehle ich: Spinnen Sie mehr. Ganz im Ernst. Ein Spinnennetz ist etwas Ultraleichtes. Spinnen steht seit jeher nicht nur für Verrücktsein, sondern auch Kreativität. Wer spinnt, träumt, er erzählt sich Geschichten, erfindet Stories – die nicht nur für die digitale Selbstvermarktung wichtig sind – sondern darüber hinaus auch helfen, mit Irritationen und Ängsten umzugehen. Jede Geschichte ist eine Chance, aus dem Chaos einen Kosmos zu zaubern. Ohne Narrative kein Sinn, ohne Spinnen keine zeitgemäße Lebenskunst.
Spinnen heißt Träumen. Wozu träumen, statt jetzt sofort jederzeit überall alles erledigen? Kann man sich das heute noch leisen? Man kann nicht nur, man muss es sogar. Um dem Dasein seine Schwere, sein Gewicht, seine Härte zu nehmen. Ich glaube, wir brauchen heute nicht nur einen pragmatischen Realitätssinn, wir brauchen fast mehr noch einen idealistischen Möglichkeitssinn. Wir können uns zusammenspinnen und zusammenträumen, was möglich ist. Was denn? Immer sehr viel mehr, als uns der Realist in uns glauben machen will. Sogar das Unmögliche.
Die Synthese von Differenzen
Wie lernt man zu träumen? Indem man die Augen nicht schließt, sondern ganz weit öffnet. Das wäre der zweite Schritt: Öffnen Sie Ihre Augen, gehen Sie durch die Welt und achten Sie dabei auf alles, was irgendwie nicht zusammenpasst – und sie gerade deshalb inspiriert. Kreativität im Digitalen Zeitalter heißt auch, aus Kontrasten, Dissonanzen, Paradoxien, Widersprüchen etwas Neues zu zaubern. Das Geheimnis der erfolgreichsten Brands heute ist aus ästhetischer Sicht, dass es ihnen gelingt, aus solchen Widersprüchen und Kontrasten überraschende, inspirierende Kombinationen zu schaffen. Aus dem Zusammenprall der unterschiedlichen Welten von high und low, edel und vulgär, Kunst und Kommerz, Tradition und Aktualität entstehen überraschende Synthesen, aus denen eine neue Art der kulturellen Bereicherung spricht: Die Mona Lisa erhält plötzlich „street credibility“, die Gucci-Tasche Kunststatus.
Nach dem französischen Psychoanalytiker und Philosoph Félix Guattari sind Differenzen Teil eines spielerischen Prozesses, durch den Menschen ihre Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit ausdrücken und mit anderen teilen können. Ein Prozess, der im digitalen Umfeld zu kommerziellen Zwecken weiterentwickelt und perfektioniert wurde – der darüber hinaus aber auch von großer lebenskunstphilosophischer Bedeutung ist. Denn durch das Spiel mit Differenzen entsteht eine kreative Diversity, die uns hilft, die schlimmsten Übel dieser Zeit loszuwerden: festgefahrene Meinungen. Unfehlbarkeitsdogmatik. Veränderungsresistenz. Regelhörigkeit. Die Tendenz zur Vereinheitlichung und Vereindeutigung.
Gehen Sie also in die Welt, öffnen Sie die Augen und achten Sie auf Widersprüche, wo immer sie ihnen begegnen. Zum Beispiel: ein eher hässliches Hochhaus, vor dem eine wunderschöne Blume aus dem Asphalt schießt. Oder einen klassischen Pianisten, der zusammen mit einer Rapperin jammt. Fotografieren Sie das Ganze –und schreiben Sie auf, warum sie das, was sie sehen, was sie erleben, worüber sie staunen, zum Träumen bringt. Denn in einer Bildkultur gilt mehr denn je: Eine Idee, die nicht in Worte gefasst werden kann, ist nichts wert. Ein nur gedachter Gedanke wird von der Wucht des nächsten Posts schlicht überrollt.
Für eine authentisch-kreative Haltung
Der dritte Schritt hat mit dem Suchen und Finden der eigenen Authentizität zu tun. Wir können nur dann wirklich kreativ sein, wenn wir wissen, wer wir „in echt“ sind. Wer man ist und wofür man lebt – das sind zwei Fragen, die untrennbar zusammenhängen. Eine Antwort zu finden, ist heute gar nicht so leicht. Weil wir ja viel mehr damit beschäftigt sind, uns (im Netz) selbst zu spielen als wir selbst zu sein. Weil wir ja mehr damit beschäftigt sind, uns selbst zu vermarkten, als wir selbst zu sein. „Erst wenn wir verloren sind…, fangen wir an uns selbst zu finden“, schrieb der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau. Wie kann man sich verlieren, um sich zu finden? Die antiken Stoiker praktizierten zu diesem Zweck verschiedene „Selbstprüfungsübungen“ – etwa, sich regelmäßig freiwillig unbekannten Situationen auszusetzen. Oder den Rollentausch: nicht sich selbst, sondern einen anderen spielen, um der eigenen Person und den eigenen Werten erst die nötigen Konturen zu verschaffen.
Tauschen Sie ruhig ab und zu die Rolle mit Herrn Weber oder Frau Kaiser. Oder mit Ihrer Nichte, Ihrem Hausmeister. Sie spielen X, und X spielt sie. Danach können Sie sich auch gleich wieder selbst spielen in den tausend verschiedenen Parts, die sie täglich ausfüllen. Aber erst dieser Umweg des Rollentauschs mit anderen lehrt Sie zu verstehen, wer Sie nicht sind – und wer Sie wirklich sind. Und gleichzeitig hilft er Ihnen, die Verkrampfung loszuwerden. Mit dem, was Friedrich Schiller eine „spielerische Haltung“ nannte: „(D)er Mensch… ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Das sollte uns zu denken geben.
Ein kreativer Mensch, der weiß, wer er ist und das mit einer spielerischen Haltung rüberbringt und inszeniert, weiß auch, wie er in dieser verrückten Welt bestehen kann. Mit Leichtigkeit.