Nie war der Mensch bereiter, seinen Mund zu öffnen. Er quasselt, schreit, singt heraus, was immer ihn aktuell bewegt. Nie war die Welt gesprächiger. Webradios und Audio-Livestreams boomen, täglich schießen neue Podcasts aus der Mediathek. Überall wird getalkt, gecallt und gechattet, als gäbe es kein Morgen. Audio-Apps wie Clubhouse geben einem schon länger gehegten Verdacht neue Nahrung: Das Internet befindet sich in der oralen Phase! Das Internet, und damit die reale Welt, deren Teil es ist. Oralität ist zur kommunikativen Standardwährung geworden. Warum? Weil sie schnell ist. Weil das, was gesprochen wird, noch unmittelbarer, emotionaler und nuancierter ist, als Text und Bild es je sein könnten. Die Regeln der neuen Mündlichkeit lauten: Ich rede in „Ich“-Form drauf los und duze „dich“ spontan oder nötigenfalls nach Absprache. „Ich“, „Du“ und „Wir“ sind die Stars der oralen Phase. Ihre Sprechblasen bewirken eine nie da gewesene Personalisierung und Intimisierung des öffentlichen Diskurses, verändern Organisationen, formen Autoritäten wie Karrieren. Sie bewirken, dass sich die Grenzen zwischen Geschriebenem, Gezeigtem und Gesagtem, zwischen Subjektivem und Objektivem, Relevantem und Unterhaltendem endgültig auflösen. Was bedeutet das für unser Verständnis von Autorität und Expertise?
Dieser Text über Oralität will ein paar vorläufige Antworten geben. Um den Abstand zwischen Schrift und Audio performativ zu verkürzen, schreibe ich in der 1. Person Singular und duze Sie. OK für dich? Beginnen wir gleich mal mit dir. Wozu brauchst du einen Internetanschluss? Zur Recherche, zum Shoppen und Dich-Ablenken natürlich. Vor allem aber, um die Verbindung zur Welt zu halten. Täglich mit Menschen aus unterschiedlichsten Segmenten unseres Lebens zu kommunizieren, ist meist nicht nur ein berufliches Erfordernis, sondern auch eine Art emotionales Grundbedürfnis. („Wofür lebst du?“, fragte ich kürzlich eine Zwölfjährige. „Für mein Handy“, sagte sie.) Das Web 4.0 ist gleichbedeutend mit Interaktivität. Du klickst bewusst oder halbbewusst irgendwo drauf, schon kriegst du Feedback. Schon ist die Interaktion im Gange, schon bist du mittendrin in der Kommunikation. Die Technologie gibt das Tempo vor. Emails sind die Schneckenpost des Web 4.0. Die gängigen Kommunikationsmodi heißen Chats und Posts. Dank Instant-Messaging-Diensten wie Slack mutet Geschriebenes wie Gesagtes an. Was du im Slack-Kanal deiner Firma, in einem Eltern-Kind-Forum oder auf Facebook textest, kommt nie (nur) sachlich rüber. Das digitale Design lässt die performative Wirkung über die konstative Ernsthaftigkeit triumphieren – die Rhetorik über die Argumentation. „Du“ bist deine Meinung, dein Appell, dein Versprechen.
Die orale Phase des Internet und die Rhetorik
„Das passende Wort ist das sicherste Zeichen für das richtige Denken“, hieß es in Ciceros (106 – 43 v. Chr.) Schrift Über den Redner (De oratore). Ciceros rhetorisches Ideal war ein integrer, kultivierter Meister der Überredung und Überzeugung, der eloquent einen sozialethischen Auftrag transportierte, ein Bildungsprogramm in Konkurrenz zur Philosophie. Das Fundament rednerischer Kompetenz lieferte lange vor Cicero Aristoteles (384 – 322 v. Chr.). Er verankerte die „Überzeugungsmittel“ in der rhetorischen Trias ethos, pathos und logos. Dass eine Rede gelingt, ist nach Aristoteles also entweder auf den (als solchen erscheinenden) Charakter dessen, der da redet, zurückzuführen; oder auf seine Fähigkeit, die Affekte der Hörer zu erregen, sie in eine bestimmte Stimmung zu versetzen; oder auf die rhetorische Rationalität des Gesagten selbst. Huch, jetzt bin ich ganz schön theoretisch geworden!
Bei dem, was du heute im Internet von dir gibst, musst du dich jedenfalls mit klassischer Rhetorik nicht unbedingt auskennen. Um zu überzeugen, reicht die erfolgreiche Selbstdarstellung in Text, Bild und Stimme. Wobei deine Stimme die Zügel in der Hand hat. Sie stellt die Wagenlenkerin dar, die ihre Rosse, „Text“ und „Bild“, permanent anpeitscht, aufweckt, anspornt. Die Show, die du dabei hinlegst, entfaltet eine eigene Dynamik – sie zielt quasi automatisch darauf, dich glänzen zu lassen. Je intensiver du kommunizierst, desto mehr professionalisiert du dein „Ich“. Je sorgfältiger du an deinem Ausdruck schleifst, desto mehr wirst du zur selbstkonsistenten, wiedererkennbaren Marke, der hoffentlich immer mehr Leute „folgen“. Erst willst, dann sollst, dann musst du glänzen – intellektuell, ästhetisch, moralisch, ökonomisch. Vor allem in den Sozialen Medien. Das ins Digitale transponierte Skinnersche Prinzip von Belohnung und Bestrafung ist integraler Bestandteil von Facebook, Instagram, LinkedIn & Co. Was, für dich gilt das nicht? Du zählt die Likes nicht, die man dir kredenzt? Weil du unter „Interaktion“ „Dialog“ und „Engagement“ verstehst? Mag sein. In diesem System interagierst du allerdings immer schon unter der Prämisse: Wo ich stehe und spreche, spreche ich über mich und für meine Zielgruppe.
Wenn sich zwei Leute in einem Podcast über Geld, Frauen oder Wissenschaft unterhalten, vermeiden sie den allzu hohen Ton. Man spricht mit größtmöglicher Nähe zur eigenen Lebenswelt und der des Publikums – und zugleich so, dass es den eigenen Marketing-Interessen dient. Ich habe was zu sagen!, lautet der Sprechakt derer, die da reden. Wer erfolgreich als Autorität rüberkommt, kann ein Wissenschaftler, Politiker, eine Philosophin oder Journalistin sein. Muss er oder sie aber nicht. Expertise allein ist nicht ausschlaggebend. Die Trias ethos, pathos, logos will ergänzt werden. Durch A) Coolness, d. h. die Fähigkeit und Bereitschaft zum launigen Quasseln, B) Resonanz, eine wie aus dem Nichts aufgetauchte, geteilte, intensive Empfindung des Verbundenseins und C) Reichweite. Alle drei Faktoren beeinflussen wiederum Informationswert und Unterhaltungswert, welche in Takeaway-Botschaften kurzzuschließen sind („ETFs für alle!“/ „Wir brauchen Gleichberechtigung auch beim Müllruntertragen!“). Ich glaube, die von individuellen Sprechern immer wieder neu erzeugte und in Gang gehaltene Resonanz ist nicht nur der wichtigste Ausweis ihrer subjektiv gefühlten und/ oder objektiv begründbaren Autorität, sondern auch der Kern der oralen Phase. Resonanz hat etwas Mythisches, Magisches – was rationale Distanznahme a priori verunmöglicht. Du hörst zu – und bist derart überwältigt von der auditiven Verbindung zur Welt, dass du denkst: Differenzieren, relativieren, prüfen, einordnen kann ich später. Nach der nächsten Folge/ dem nächsten Chat/ dem nächsten Song. Aber das Später, das kommt nie. Ich weiß gar nicht mehr, wie sich Stille anhört. Du? Das Auf- und Abwogen der Sprechblasen ist spannender als jeder Krimi. Kaum jemand wagt je die Pausentaste zu drücken.
Der neue digitale Mix der Kommunikation
Die Rückwirkungen der neuen Oralität auf Schrift und Bild bewirken ein Ineinander von Text, Look und Stimme. Dieser digitale Mix hat das tradierte Expertentum der Außenwelt (sofern überhaupt noch vorhanden) in gleichsam radioaktiver Weise verstrahlt. Hierarchische „Ober-Unter“-Paarungen wie Lehrer-Schüler, Professor-Student oder Arzt-Patient verkümmern. Es dominiert eine endlose vertikale Aneinanderreihung der gerade angesagtesten „Stimmen“. Von ihnen darf jeder und jede ihre 15 Minuten Ruhm genießen. Jede und jeder kann es mit einem passenden Narrativ in den Deutschlandfunk oder zu Lanz schaffen. Resonanz schlägt Substanz. So ist auch das, was in der Politik, der Unternehmenskommunikation oder im Hochfeuilleton vermittelt wird, meist weniger Orientierung als Stimmung, Schwingung. Vorherrschend sind atmosphärische Befindlichkeiten, die sich der – von dem tschechischen Kulturphilosophen Vilém Flusser so genannten – „amphitheatralischen Diskursart“ anschmiegen. Schon wieder so theoretisch. Verzeih! Was ich sagen will: Das Publikum redet auch in den analogen Restbezirken immer mit. Die ganze Welt ist ein Amphitheater. Spitzenpolitiker lassen in Casting-Shows über ihre rhetorische Eignung zum Parteivorsitz abstimmen oder beugen sich – gerade bei hochkomplexen Themen wie Corona – dem Druck der Umfragen. Was objektiv geboten ist oder sein könnte, kann nie so ausschlaggebend sein wie das subjektiv Gefühlte. Nicht, wenn es um Resonanz geht. Resonanz erzeugt man am unkompliziertesten nicht mit langsam entfaltetem logos. Sondern mit schnellem „Gerede“ – einer, wie der zu Unrecht vergessene Medientheoretiker Vilém Flusser schon 1984 schrieb, „Pseudokommunikation“, „die (die) Informationen, die im Gespräch erzeugt, weitergegeben und gespeichert wurden… zu Amorphem, Wahrscheinlichem, Voraussehbarem (zerreibt).“
Ich glaube nicht an den linearen Fortschritt unserer Kultur. Kultur bewegt sich in Zyklen. Diese Kultur ist kreisförmig wie die Spielstätten, in denen wir hocken und nicht aufhören können zu senden und zu empfangen. Bist du noch da? Reicht deine Aufmerksamkeit noch?
Es ist schwer, klug über die orale Phase zu reden, wenn man selbst mittendrin steckt. Vielleicht verblöden wir ja alle in der durch allumfassende Rhetorik überwölbten amphitheatralischen Dauerbeschallung. Vielleicht lernen wir aber auch etwas dazu; etwas, das die lahmenden Teile von Politik, Wirtschaft und Bildung vitalisieren könnte. Zum Beispiel, dass es Zeit ist, Reden in Handeln zu übersetzen. Wir könnten Entscheidende und Erkennende in Dialog treten lassen, statt über beide schnell mal recht haben zu wollen und sie zu zerreden. Womöglich wird uns dann auch langsam klar, wozu wir überhaupt eine allgemeinverständliche Sprache besitzen, warum wir uns ständig artikulieren wollen und ständig betonen, dass wir miteinander reden und einander zuhören müssen. Flusser: „Die menschliche Kommunikation … geschieht in der Absicht, die Sinnlosigkeit und Einsamkeit eines Lebens zum Tod vergessen und damit das Leben lebbar zu machen.“ So. Lass das mal auf dich wirken. Ich muss jetzt los – in den nächsten Call.
Eine ausführliche Version dieses Texts erschien in HOHE LUFT 4/ 2021